Jung/Schneider, Machtergreifung 1933 Friedberg/Bad Nauheim
Von Malte Dücker
Vom Ende der demokratischen Wetterau
Die Stadtarchivare Lutz Schneider und Alexander Jung referierten über die „Machtergreifung der NSDAP in Friedberg und Bad Nauheim 1933“
Mehr als 90 Jahre sind vergangen, seit die NSDAP im Frühjahr 1933 auch in der Wetterau die Weimarer Demokratie in eine Diktatur verwandelte. Dass das Thema die Menschen im Jahr 2023 noch bewegt, zeigte die große Zahl der Gäste, die der Friedberger Geschichtsverein am 16. November zu einem Doppelvortrag über die „Machtergreifung der NSDAP in Friedberg und Bad Nauheim“ begrüßen konnte. Auch die letzten Plätze waren mit Interessierten aus beiden Städten besetzt, als die beiden Stadtarchivleiter Lutz Schneider (Friedberg) und Alexander Jung (Bad Nauheim) ihre mit zahlreichen Originaldokumenten illustrierte Präsentation vorstellten.
Der Friedberger Archivar machte den Anfang. Sein trotz der Komplexität der Ereignisse pointierter Vortrag zeigte eindrücklich, wie schnell und rücksichtslos die Demokratie in der Kreisstadt abgeschafft wurde. Schon Michael Strecker hatte deutlich gemacht, dass die NSDAP vor allem in den landwirtschaftlich geprägten Dörfern der Wetterau sehr erfolgreich gewesen ist (Vgl. Wetterauer Geschichtsblätter, Bd. 60). Der enorme Preisverfall für Agrarprodukte in den 1920er Jahren oder das politische Engagement des rechtsextremen Hessischen Landbunds hatten den Boden für nationalsozialistisches Gedankengut bereitet. Auch in den heutigen Stadteilen Friedbergs verzeichnete die NSDAP in den frühen 1930er Jahren massive Stimmenzuwächse. Einzig in den SPD-Hochburgen Dorheim und Ossenheim stellte die Hitlerpartei nach der Reichstagswahl vom März 1933 nicht die stärkste Fraktion.
In der Stadt Friedberg zeigte sich, dass der Nationalsozialismus nicht nur für Landwirte attraktiv war, sondern breite Schichten der Gesellschaft adressieren konnte. Handwerksmeister und Kaufleute zählten ebenso zu den Unterstützerkreisen der NSDAP wie zahlreiche Lehrer der Augustinerschule, Stadtkirchenpfarrer Gengnagel oder die Dozenten und Studenten des Friedberger Standorts der heutigen THM, der im Juni 1933 den Namen „Adolf-Hitler-Polytechnikum“ erhielt.
Mit zahlreichen historischen Zeitungsausschnitten und Fotografien illustrierte Lutz Schneider, wie nach der gewonnenen Reichstagswahl und de
m „Ermächtigungsgesetz“ im März 1933 auch in Friedberg die systematische Entmachtung und Verfolgung der politischen Gegner vorangetrieben wurde. Das Hissen von Hakenkreuzflaggen und Propaganda-Aufmärsche von SA zählten ebenso zum städtischen Alltag des Jahres 1933 wie erste Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte. Am 23. April wurden schließlich Paul von Hindenburg und Adolf Hitler zu Ehrenbürgern Friedbergs ernannt.
Der zweite Vortrag von Alexander Jung ergänzte nicht nur die Bad Nauheimer Perspektive, sondern konzentrierte sich auch stärker auf die Situation der Regimegegner. Auch nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler blieben dessen politische Gegner in der Kurstadt zunächst aktiv. Für den Februar 1933 ist eine antifaschistische Kundgebung mit 700 Teilnehmern belegt, der spätere Bischof von Mainz und gebürtige Friedberger Albert Stohr (1890–1961) geißelte als Redner der Zentrumspartei den „Gesinnungsterror“ der NSDAP und noch am 5. März fand ein Rededuell zwischen Vertretern der NSDAP und der KPD statt. Zur gleichen Zeit gab es aber auch in Bad Nauheim bereits erste Hausdurchsuchungen bei den Parteien der Weimarer Koalition und der KPD und erste Übergriffe gegen deren Mitglieder.
Eindrucksvoll schilderte Jung am Beispiel des Bad Nauheimer Malers Otto Franz Kutscher (1890–1971) und der KPD-Reichstagsabgeordneten Franziska Kessel (1906–1934), wie schnell die Demokratie in einen repressiven Überwachungs- und Terrorstaat umgewandelt wurde. Kutscher, der in Kontakt mit untergetauchten Schriftsteller und KPD-Mitglied Erich Weinert stand, hatte mit Einschüchterungsversuchen durch Polizei und Gestapo zu kämpfen. Kessel hatte im Untergrund versucht, die politische Opposition gegen die Hitler-Regierung neu zu formiere. Die Kommunistin wurde aber von einem Parteigenossen enttarnt und am 4. April 1933 am Bad Nauheimer Ludwigsbrunnen verhaftet. Sie starb nur ein Jahr später unter schlimmsten Haftbedingungen und ungeklärten Umständen im hessischen Landgerichtsgefängnis in Mainz.
Zielgerichtet und unter den Augen der Öffentlichkeit wurden die demokratischen Strukturen der Weimarer Republik also auch in Friedberg und Bad Nauheim in kürzester Zeit demontiert. Nur ein halbes Jahr nach Hitlers Ernennung zum Kanzler, titelte die örtliche Presse, dass der „Parteienstaat am Ende“ sei. Die bedrückenden Schilderungen der Referenten und die lebhafte Diskussion im Anschluss an die Vorträge zeigten, wie relevant das historische Thema auch als Mahnung für die heutige Demokratie bleibt.
Vgl. Wetterauer Zeitung 7.11.2023