Dr. Wunder, Adolf Reichwein
Widerständler, »nationaler Sozialist« und Kulturpolitiker
Friedberg (gk). Er war zeitlebens ein Grenzgänger und unabhängiger Kopf, dem politische Berührungsängste fremd waren: Adolf Reichwein, geb. 1898 in Bad Ems und aufgewachsen in Rosbach, wurde nach seiner Ermordung am 20. Oktober 1944 in Berlin-Plötzensee durch die braunen Schergen zum Namensgeber zahlreicher Schulen in der jungen Bundesrepublik. Über sein pädagogisch-politisches Wirken seit Beginn der 1920er Jahre stößt er 1942 zum »Kreisauer Kreis« um Helmuth James Graf von Moltke, der sich die Beseitigung Hitlers und eine demokratische Neuordnung Deutschlands zum Ziel gesetzt hatte. Dr. Dieter Wunder, Historiker aus Bad Nauheim, ist ausgewiesener Reichwein-Kenner und beeindruckte dieser Tage im Rahmen der Vortragsreihe des Friedberger Geschichtsvereins mit einem profunden Referat über den Werdegang Reichweins vor allem in den Jahren der Weimarer Republik. Wunder scheute dabei nicht davor zurück, auf die fragwürdigen Seiten des Mannes hinzuweisen, der neben vielen anderen Ämtern seit 1930 die Professur für Geschichte und Staatsbürgerkunde an der Pädagogischen Akademie in Halle/Saale bekleidete. Nach der Machtergreifung Hitlers im Oktober 1933 aus dem Hochschuldienst entlassen, wird er Dorfschullehrer in Tiefensee an der Oder. Vor allem aus dieser Tätigkeit erwächst sein 1937 erscheinendes pädagogisches Hauptwerk »Schaffendes Schulvolk«. Aus dem Geist des »Wandervogels«, dem Reichwein
als Jugendlicher angehörte, wird hier das Konzept einer ganzheitlichen Pädagogik entwickelt, das zur Gründung zahlreicher Landschulheime führte. Erziehung geht für Reichwein über Wissensvermittlung und Schulung des Intellekts weit hinaus. Sympathie mit völkischen Ideen Er, der sich selbst als »nationaler Sozialist« bezeichnete, war zwar bereits 1930 aus Protest gegen den Aufstieg der politischen Rechten in die SPD eingetreten, sympathisierte aber gleichzeitig mit völkischen Ideen des so genannten »Nationalbolschewismus« und »linken« Gruppierungen in der NSDAP um die Gebrüder Strasser. Am fragwürdigsten aus heutiger Sicht ist wohl seine Tätigkeit als Leiter der Schulabteilung des Berliner Volkskundemuseums seit 1939 – einer Einrichtung, die ganz vom rassistischen »Geist« des NS bestimmt war. Nichtsdestotrotz plädierte der Referent für eine differenzierte Beurteilung Reichweins. Einseitige Idealisierungen bzw. Verurteilungen führen, sagte Dr. Wunder, in eine Sackgasse und verfehlen Denken und Wirken des Mannes, der sein unerschrockenes Engagement mit dem Leben bezahlte. Nach dem mit viel Beifall bedachten Vortrag entspann sich eine interessante Gesprächsrunde, in der es u.a. um die Nachwirkung bzw. Umsetzung von Reichweins pädagogischen Ideen nach 1945 und seine nationalökonomischen Thesen in dem 1928 nach einer zweijährigen Studienreise durch die Vereinigten Staaten erschienenen Werk »Die Rohstoffe der Erde« ging.
Wetterauer Zeitung 19.2.2018