Dr. Schlütz, Haas, der „ungekrönte Bauernkönig“

Dr. Frauke Schlütz aus Stuttgart hat kürzlich beim Friedberger Geschichtsverein über den Lebensweg von Wilhelm Haas referiert, der neben Raiffeisen und Schulze-Delitzsch zu den führenden Gründervätern des deutschen Genossenschaftswesens zählte. Allerdings stand Haas bis zum heutigen Tage nie im Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung, da er einerseits jünger als seine Mitstreiter war und er sich andererseits insbesondere landwirtschaftlichen Themen widmete. Haas, 1839 in Darmstadt geboren, studierte von 1857 bis 1861 in Gießen Rechtswissenschaften. Die Universität galt damals als sehr liberal und modern. Haas, dessen Charakter als humorvoll und urig zu bezeichnen ist, verbrachte dort eine wilde Studentenzeit.

Deutschen Dachverband gegründet

Zu Beginn seiner beruflichen Karriere war er von 1869 bis 1874 Assessor beim großherzoglich-hessischen Kreisamt in Friedberg. Die Epoche des ausgehenden 19. Jahrhunderts war durch einen spürbaren Übergang des Agrarstaates in einen Industriestaat gekennzeichnet. Dieser Transformationsprozess führte dazu, dass eine neue Rolle der Landwirtschaft ein wesentlicher Punkt der damaligen Sozial- und Wirtschaftspolitik war. Es lag im damaligen gesellschaftlichen Trend, Mitglied in einem der zahlreichen Landwirtschaftsvereine zu sein. Sie sind als die eigentlichen Zellen des politischen Handelns und Lebens zu verstehen. Sein umtriebiges Wesen ließ Wilhelm Haas 1872 den landwirtschaftlichen Konsumverein Friedberg, ein Jahr später den hessischen und 1883 als Dachverband die Vereinigung der Deutschen Landwirtschaftlichen Genossenschaften gründen, dessen Gallionsfigur er schließlich wurde. Sie waren nach dem Regionalprinzip organisiert, dienten als Informationsstellen und nutzten den günstigen Mengeneinkauf. Einen neuen Aufwind erfuhr das Genossenschaftswesen 1889, als Haas aufgrund seiner juristischen Profession an der Aufstellung des Genossenschaftsgesetzes mitwirkte.

Dr. Frauke Schütz

Auch als Politiker war Haas sehr erfolgreich. Er wurde 1911, nachdem er seit 1881 Mitglied und ab 1897 Präsident der zweiten Kammer des hessischen Landtages gewesen war, in die erste Kammer berufen. Als »Vizegroßherzog« widmete er sich hier vorwiegend agrarpolitischen Themen. Von 1898 bis 1912 war er auch Reichstagsabgeordneter und am Aufbau der landwirtschaftlichen Infrastruktur Deutschlands beteiligt. Beispielhaft sei hier die »Kornhäuserbewegung« zu erwähnen. Diese Entwicklung nutzte Haas und gründete als Dachgesellschaft der »Landwirtschaftlichen Vereine« die erste Landwirtschaftskammer, der er auch als Präsident vorstand. Hochdekoriert trat Haas 1900 als geheimer Regierungsrat aus dem Staatsdienst aus. Haas erkannte, dass die Genossenschaften nicht nur für den Handel von Bedeutung sind, sondern auch für eine gesellschaftspolitische Stärkung des Bauernstandes.

Völlig neue Form der Lobbyarbeit

Diese Erkenntnis trug schnell dazu bei, dass in allen Sparten der Landwirtschaft, wie zum Beispiel bei Molkereien, Weinbau und Landhandel, Genossenschaften gegründet wurden. Als »ungekrönter Bauernkönig« und Verwaltungsfachmann kümmerte sich Haas stets um das landwirtschaftliche Vereinswesen, wobei es ihm gelang, im gesamten Deutschen Reich aufgrund seiner politischen Kontakte ein gut funktionierendes landwirtschaftliches Netzwerk aufzubauen. Diese für die damalige Zeit völlig neue Form der Lobbyarbeit war seine Pionierleistung. Letztendlich mündeten diese Fähigkeiten in den Aufbau der landwirtschaftlichen Berufsvertretung, wie man sie heute beim Hessischen Bauernverband kennt.

An den informativen Vortrag schloss sich eine Diskussion an, bei der auch Haas’ Verantwortung bei der Gründung der Ackerbauschule in Friedberg und damit für das landwirtschaftliche Fachschulwesen in Hessen angesprochen wurde.

Achim Meisinger
Wetterauer Zeitung 20.11.2018

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