Schillerfeste

Wetterauer Zeitung, 15.10.2005

»Des deutschen Spießbürgers Schillerfeste«

Hans Wolf, Vorsitzender des Geschichtsvereins, berichtet im Klosterbau über die Rezeption des Klassikers und seiner Werke

von Jürgen Wagner

Friedberg. Was bedeutet uns heute Friedrich Schiller? Nicht viel, lautet die ernüchternde Antwort, zumindest wenn man die öffentliche Wirkung des vor 200 Jahren verstorbenen Dichters betrachtet. Die »hohle Gasse«, durch die er der berühmten Sentenz nach kommen müsste, scheint längst verbaut, und dass da jemand früh übt, um ein »Meister« der Schiller-Interpretation zu werden, ist zumindest nach außen hin nicht sichtbar. Beispiel Friedberg: Die Schillerlinde, 1859 in einem pompösen Aufzug anlässlich des 100. Geburtstages des als »Nationaldichters« Gefeierten gepflanzt, ging ein, und auch alle Nachpflanzungen hatten keinen Erfolg; die »Schillerlinde«, einst eines der beliebtesten Lokale der Stadt, lebt nur noch in der wehmütigen Erinnerung der Schoppepetzer fort, und auch die Schillerschule ist längst Teil der Vergangenheit, nachdem die einstige Höhere Töchterschule 1974 im Burggymnasium aufging. Ansonsten: Jede Menge Schiller-Bücher in den Auslagen der Buchhandlungen, eine Lesung des Volksbildungsvereins, zwei honorige Stadthistoriker, die in der Presse über einen »Schillerplatz« streiten, der keiner ist – immerhin erstaunlich und begrüßenswert, dass über Schiller noch gestritten wird – und in der Augustinerschule verkommt die letzte sichtbare Erinnerung an den fahl gewordenen »Feuerkopf«: Die Kopie der Schiller-Büste von Johann Heinrich Danecker, 1905 im Flur im Parterre der Schule feierlich enthüllt, wurde bei den jüngsten Baumaßnahmen im Altbau arg verschmutzt. Schiller trägt jetzt ein staubgraues Oberlippenbärtchen, Nase und Brust lassen glauben, im 19. Jahrhundert hätte es schon Sonnenbänke gegeben.
»Schiller«, so der Lokalhistoriker und Geschichtsvereinsvorsitzende Hans Wolf in seinem Vortrag über die Schiller-Rezeption in Friedberg, »Schiller war 2005 nicht mal mehr einen Plastiksack wert«, den man der Büste zum Schutze hätten überstülpen können. Aber stand es zu anderen Zeiten besser um die Pflege des literarischen Erbes? Dieser Frage widmete sich Wolfs Vortrag am Donnerstagabend im Bibliothekszentrum Klosterbau, der erfreulich viele, nämlich gut 70 Zuhörer angelockt hatte. Denn er war unser«, hatte Wolf seinen Vortrag überschrieben, und die Betonung liegt hier auf dem Präteritum. Schillers Anliegen war es, die »Kluft zwischen Mensch und Natur, zwischen Verstand und Sinnlichkeit zu überbrücken durch die Kunst«. Diese sollte, wie es die Schrift »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« deutlich macht, die Wunde heilen, die die Zivilisation im Menschen aufgerissen hat. Die Kunst soll den Menschen mit seiner Welt aussöhnen.

Pathos, Krampf und hohle Phrasenn
Diese Kernaussage wurde im Laufe der Zeiten überhört, missverstanden, umgedeutet. Pathos, Krampf und hohl gewordene Phrasen traten an die Stelle von Lektüre und Interpretation. Um dies aufzuzeigen, gliederte Wolf seinen Vortrag in drei Teile: die Schiller-Rezeption zu dessen Lebzeiten, der – zuweilen zweifelhafte – Nachruhm im 19. und 20. Jahrhundert und sein Nachhall in unserer Zeit.
Schon vor 200 Jahren verdrängten der »Schillerkragen« – offenes Hemd ohne Halstuch – und die »Schillerlocke« das Bildungsprogramm der deutschen Klassik. Als die Freikorps mit dem Reiterlied aus »Wallensteins Lager« (»Wohl auf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd / Ins Feld, in die Freiheit gezogen«) in die Befreiungskriege gegen die französischen Besatzer ausrückten, machten sie aus dem idealistischen Dichter einen nationalistischen Patrioten. Schiller sei in einem Maße überhöht worden, »der mit der Realität nichts mehr gemeinsam hatte«, so Wolf. Zum 100. Geburtstag des früh Verstorbenen wurden 1859 in 500 deutschen und 50 ausländischen Städten Schillerfeiern abgehalten, und dies wiederholte sich, wenn auch in kleinerem Umfang, 1905 und 1955.
Es war eine der Stärken von Wolfs Vortrag, dass die unterschiedlichen Motivationen der verschiedenen Feierlichkeiten anhand zahlreicher historischer Belege herausgearbeitet wurden: Schiller als Symbol der nationalen Einheit, seine Dramen und Balladen als Rechtfertigung für den Krieg 1870/71 gegen Frankreich oder gar – Gipfel der Pervertierung – Schiller als »Kampfgenosse Hitlers«, wie es auf einem Plakat zur Aufführung von »Wallensteins Lager« durch Augustinerschüler 1933 im Burggarten deutlich wird: Der abgebildete Landsknecht sieht einem Hitlerjungen zum Verwechseln ähnlich.

An der Schiller-Rezeption erkennt man seine Pappenheimer
An der Schiller-Rezeption, möchte man mit Wallenstein ausrufen, erkennt man seine Pappenheimer – doch selbst dieses geflügelte Wort ist längst Opfer einer Pervertierung geworden, die aus den treuen Kürassieren aus Pappenheim schlawinerhafte Gestalten gemacht hat.
Nicht minder peinlich war die Schillerfeier am 10. November 1859: In einem Festzug wurde die zu pflanzende Linde von der Burg zur »Kleinen Freiheit« getragen, der Festredner Prof. Diegel (»Hochgeehrte Versammlung, deutsche Männer und Brüder!«) deutschtümelte sich durch die Minderwertigkeitskomplexe einer Nation, die erst noch eine werden sollte. Gut 100 Jahre später galt Schiller als Freiheitskämpfer gegen den Absolutismus, und Wilhelm Hans Braun, 1955 Vorsitzender des Geschichtsvereins Friedberg, stellte die Frage, ob die klassischen Ideale angesichts von Tod, Vernichtung und Vertreibung während der Nazidiktatur nicht schal wirkten. Die Kunst, so Braun, schaffe keine Heilung mehr, sie bilde allenthalben Unheil ab, der Idealismus sei der verzweifelte Versuch, eine auseinanderklaffende Harmonie zu retten.
Diese Töne, so bekannte Wolf, gefielen ihm sehr viel besser als das »hohle Pathos von 1859«. Für das Jahr 2005 stellte er fest, dass Schiller »wirklich nicht in Grund und Boden gefeiert wurde«. Wolf verwies auf die wunderbar schlüssige Inszenierung der »Maria Stuart« bei den Burgfestspielen in Bad Vilbel, in der die Verführung durch die Macht in eindrucksvolle Bilder gebracht worden sei (»Auf dem Theater ist Schiller noch unser.«), und er führte als Beleg für das ungebrochene Interesse an dem Klassiker die vielen Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt an, allen voran die großartige Schiller-Biographie des Philosophen Rüdiger Safranski. Wenn sich folglich die Schiller-Rezeption im 21. Jahrhundert wieder auf die Lektüre seiner Werke richtet, so mag dies weniger Aufsehen erregen als die pompösen Feiern der Vergangenheit. Schiller wird dies aber endlich gerecht.
Hans Wolf schöpfte bei seinem historisch fundierten Vortrag aus einem großen Wissensschatz, und auch wenn die Materie auf den ersten Blick eine trockene zu sein schien, so gelang es ihm doch, sehr anschaulich und hier und da mit funkelndem Witz seine Zuhörer zu fesseln. So war der Vortrag über die Schiller-Rezeption zugleich der Höhepunkt der Schiller-Rezeption des Jahres 2005 in Friedberg, deren Botschaft nur lauten kann: Schiller lesen! Und vielleicht staubt mal jemand die Büste ab.

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