Dr. Eichler, Deportation Hessen 1940-1945

Den Opfern ihre Stimme zurückgeben

Dr. Volker Eichler stellt Dokumentation über Deportation der Juden vor

Jahrelang hatte Monica Kingreen, seit 2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Frankfurter Fritz-Bauer-Institut und Verfasserin zahlreicher Studien über jüdisches Leben in der Wetterau, Material für die umfangreiche Dokumentation über die Deportation der Juden aus Hessen in den Kriegsjahren 1940 bis 1945 zusammengetragen. Deren Fertigstellung sollte der 2017 mit nur 65 Jahren verstorbenen Historikerin aus Nidderau jedoch nicht mehr vergönnt sein.

Dr. Volker Eichler, ehemaliger Leiter des Hessischen Hauptstaatsarchivs Wiesbaden, übernahm im März 2019 die Aufgabe, die von ihm um einen umfangreichen Anmerkungsapparat sowie Karten und Tabellen erweiterte Dokumentation Kingreens als Buch herauszugeben. Das Werk »Die Deportation der Juden aus Hessen 1940 bis 1945. Selbstzeugnisse, Fotos, Dokumente« liegt nun im Buchhandel vor. Die als Band 32 der »Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen« erschienene Studie umfasst nahezu 500 Seiten mit 288 Abbildungen.

Bezüge zur Augustinerschule

Zwei Karten und 15 Tabellen stellte Eichler am Sonntagvormittag im Bibliothekszentrum Klosterbau der zahlreich erschienenen Hörerschaft vor.

Von den etwa 17 000 in die NS-Vernichtungslager deportierten jüdischen Bürgern aus dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Hessen überlebten kaum mehr als 1000. Alle anderen wurden in den Gaskammern ermordet, zu Tode geprügelt oder fielen den unmenschlichen Lagerbedingungen zum Opfer.

Kingreens Standardwerk ist ganz aus der Opferperspektive verfasst. Über die für den vieltausendfachen Mord Verantwortlichen enthält es kaum Informationen. Dafür eröffnet die monumentale Studie dank der Vielzahl von (Abschieds-)Briefen der Opfer an Verwandte, Freunde, Kollegen einen erschütternden Einblick in deren Verzweiflung und Leid. Kingreen habe ihnen ihre Stimme, ihre Würde zurückgegeben, sagte Eichler. Dies sei umso wichtiger, als es kaum noch Überlebende des Holocaust gibt, die über das Grauen berichten können.

Im Anschluss an Eichlers Vortrag unternahmen es Christiane und Hartmut Heinemann, die Opfer der minuziös geplanten und durchgeführten Deportationen in den Tod anhand ausgewählter Briefzeugnisse »zu Wort« kommen zu lassen. In einem Abschiedsbrief vom 25. Januar 1942 an seine rechtzeitig aus Nazi-Deutschland emigrierten Kinder informiert sie Dr. Felix Blumenfeld aus Kassel, dass er sich seiner bevorstehenden Deportation durch Freitod entziehen wolle – ein wahrhaft erschütterndes Dokument neben vielen anderen in Kingreens Dokumentation.

Michael Keller erinnert sich

Allein in Frankfurt am Main schieden etwa 900 Juden aus dem Leben. »Lieber von eigener Hand sterben, als sich wie Vieh zur Schlachtbank schleppen zu lassen«: Wenn aus Felix Blumenfelds Brief so etwas wie Angst spricht, dann ist es nicht die vor dem Tod, sondern vor dem Verlust der eigenen Würde.

Die Großmarkthalle fungierte ab Sommer 1940 als Sammelpunkt für die Deportationen der Frankfurter Juden. In Friedberg war es das Gebäude der Augustinerschule, von dem aus die letzten 174 in der Stadt verbliebenen Juden in den Tod geschickt wurden. Gegen welch massive Widerstände noch Jahrzehnte nach dem schrecklichen Geschehen die Anbringung einer Gedenktafel an diesem Ort der Schande durchgesetzt werden musste, berichtete Friedbergs ehemaliges Stadtoberhaupt Michael Keller in der sich an die bewegende Brieflesung anschließenden Gesprächsrunde.

Gab es nennenswerten Widerstand der von den Deportationen Betroffenen? Was weiß man von den Hauptverantwortlichen für die sogenannte Evakuierungen der hessischen Juden?

Warum begann die Aufarbeitung des Unrechts erst Jahrzehnte nach Kriegsende? Um diese und weitere Themen kreiste die etwa halbstündige Fragerunde.

Gerhard Kollmer, Wetterauer Zeitung, 2. März 2023

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