Dr. Schneider, Belastete Demokraten

„Von Demokratisierern, Bürokraten und mentalen Kontinuitäten in der hessischen Landespolitik nach 1945“. Vortrag von Frau Dr. Sabine Schneider beim Friedberger Geschichtsverein“

Im letzten Jahrzehnt hat sich die historische Forschung für ranghohe Politiker und Staatsdiener im Nachkriegsdeutschland interessiert, die während der NS-Zeit dem Nationalsozialismus zugetan waren oder diesen gar gefördert hatten. Die Marburger Historikerin Sabine Schneider analysierte in diesem Kontext in ihrer Dissertation die nationalsozialistische Belastung sowie die politische Betätigung nach dem Zweiten Weltkrieg von elf hessischen Landtagsabgeordneten, die daneben auch andere hervorgehobene Ämter in Regierung und Verwaltung innehatten. Über sechs von ihnen aus Südhessen referierte sie vor dem Friedberger Geschichtsverein. Es handelte sich um Rudi Arndt (SPD, hessische Minister, Frankfurter Oberbürgermeister, Fraktionsvorsitzender im Europaparlament), Gustav Hacker (führender Vertriebenen-Politiker der gesamtdeutschen Partei – GDP – und hessischer Agrarminister), Frank Seiboth (Bundesvorsitzender der GDP, Mitglied des Bundestages), Ernst Holtzmann (CDU, Darmstädter Bürgermeister), Heinrich Rodemer (Fraktionsvorsitzender der FDP im Hessischen Landtag, Bürgermeister von Bad Wildungen) und Tassilo Tröscher (SPD, hessischer Landwirtschaftsminister).

Dr. Sabine Schneider

Frau Schneider stellte in Kürze die Biografien der sechs Politiker aus der Zeit vor 1945 vor, wobei sich zeigte, dass ihre Verstrickung in den Nationalsozialismus sehr unterschiedlich war. So ist von Rudi Arndt lediglich bekannt, dass er – obwohl aus einer sozialdemokratischen Familie stammend – 1944 als 17jähriger aus heute nicht geklärten Gründen der NSDAP beitrat. Im Meldebogen zur Entnazifizierung verleugnete er allerdings seine Parteimitgliedschaft. Die Referentin betonte, dass er jedenfalls nicht als „Nationalsozialist“ bezeichnet werden könne. Auch Holtzmann, vor dem Zweiten Weltkrieg Jurist bei der Stadt Darmstadt, stand dem Nationalsozialismus zwar kritisch gegenüber und äußerte sich gegen die Gleichschaltung der Vereine, wurde aber 1940 in die NSDAP aufgenommen. Dagegen taten sich Hacker als sudetendeutscher Politiker und als Landwirtschaftsführer in der Ukraine, Seiboth als einer der höchsten Parteifunktionäre im Sudetenland und Schulungsleiter und Rodemer als hoher Propagandaverantwortlicher hervor. Frau Schneider beurteilte sodann, wie sich die Politiker nach 1945 im neu entstandenen demokratischen Staatswesen einfügten. Sie fand dabei, dass sich diejenigen leichter anpassten, die bereits vor 1945 demokratische Werte vertreten hatten (Tröscher und Holtzmann) oder noch jüngeren Alters waren (Arndt). Eine belehrende Wirkung hatte auch die parlamentarische Arbeit und die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden. Dass einige der Politiker Probleme mit der Meinungsfreiheit hatten, zeigte sich etwa an der Diskussion um die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Seiboth und Hacker, die sich in der Bundesrepublik für die Vertriebenen und die Rückgewinnung der verlorenen Ostgebiete engagierten, bekämpften energisch diejenigen, die für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze eintraten, als „Verzichtspolitiker“ („Verzicht ist Verrat“) oder verunglimpften die neu entstehenden Bürgerinitiativen (Seiboth). Ihre Einstellungen orientierten sich teilweise noch lange an Werten wie der „NS-Volksgemeinschaft“ oder älteren Gemeinschaftsvorstellungen. Für die nationalkonservativen Politiker stand die Erweckung des deutschen Nationalstolzes im Vordergrund, während sie zur Demokratisierung nicht bewusst beitrugen. Anders dagegen Holtzmann und Arndt, die die Entwicklung der deutschen Demokratie förderten, indem sie sich etwa für die politische Bildung einsetzten, den aufkommenden Extremismus bekämpften und eine stärkere Bürgerbeteiligung forderten. Abschließend teilte die Referentin die angesprochenen Politiker in drei Gruppen ein. Als „Demokratisierer“, der bewusst und aktiv die Demokratieentwicklung förderte, stufte sie nur Arndt ein. Als „Bürokraten und Verfassungspatrioten“, die sich strikt an die Gesetze hielten, sich an Sacharbeit orientierten und eine harmonische Zusammenarbeit suchten, nannte sie Holtzmann und Tröscher. Als „partiell Illiberale“ mit erzkonservativen und undemokratischen Ansichten erschienen ihr Rodemer, Hacker und Seiboth. In der anschließenden Diskussion kam auch die Frage auf, inwiefern die sechs Politiker ihre NS-Vergangenheit zu unterdrücken versuchten. Frau Schneider fügte hierzu an, dass aus den wenigen Quellen (vor allem Stellungnahmen in den Spruchkammerverfahren) die Behauptungen hervorgingen, man sei schon immer gegen den Nationalsozialismus gewesen. Lediglich Tröscher und Holtzmann setzten sich kritisch mit der Parteizugehörigkeit zur NSDP auseinander.

Reinhard Schartl

Vgl. Wetterauer Zeitung 28.1.2020

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