Vortrag Petra Tücks: Verlorene Kostbarkeit hessischer Baugeschichte

Wetterauer Zeitung, 27.03.2004

»Verlorene Kostbarkeit hessischer Baugeschichte«

Petra Tücks referierte beim Geschichtsverein über das Neue Palais in Darmstadt – Recherchen und neue Erkenntnisse

von Wolfgang Schmidt

 

Auf Einladung des Friedberger Geschichtsvereins referierte Petra Tücks M.A. in einem Lichtbildervortrag über das ehemalige Neue Palais in Darmstadt. Im Rahmen ihrer kunst- und architekturgeschichtlichen Studien an der Universität des Saarlandes hat sie bislang unbeachtete Quellen aufgetan. In ihrer Dissertation wird erstmals umfassend diese verlorene Kostbarkeit der hessischen Baugeschichte aus der Zeit des Historismus und ihre spätere Bedeutung für den Darmstädter Jugendstil gewürdigt.
Unter den interessierten Gästen konnte der Vereinsvorsitzende, Hans Wolf, auch S.K.H. Moritz Landgraf von Hessen begrüßen, dessen Familie das Schloss einst als Wohnsitz diente.

Der Anlass, im Jahre 1863 den Bau eines weiteren großherzoglichen Palais in Angriff zu nehmen, war die Hochzeit des hessisch-darmstädtischen Prinzen Ludwig, des späteren Großherzogs Ludwig IV., mit der englischen Prinzessin Alice, der zweitältesten Tochter der Queen Victoria von England. Von London aus wurden gewisse Ansprüche an eine repräsentative Unterkunft für das Mitglied des Königshauses gestellt, die auch ein kleines Großherzogtum mit verhältnismäßig bescheidenen finanziellen Mittel zu erfüllen hatte.
Als Bauplatz diente das bis dahin als botanischer Garten genutzte Areal am Wilhelminenplatz. Beauftragt wurde der Architekt Conrad Kraus, ein erfolgreicher Baunternehmer in Mainz, jedoch bis dahin – und eigentlich bis heute – nicht über die Mainzer Stadtgrenzen hinaus bekannt. Er nahm den fürstlichen Auftrag primär wegen des damit verbundenen großen Prestiges an.

Noch im November desselben Jahres wurde der gesamte Rohbau des Palais fertiggestellt, das sich in einer Breite von 64 Metern und einer Höhe von 18 Metern im Mittelrisalit ( Vorsprung ) erhob. Der Bau gliederte sich in den siebenachsigen Mittelrisalit und zwei seitliche, etwas niedrigere, jeweils fünfachsige Flügel. Über dem hohen gequaderten Sockelgeschoß schlossen sich im Mittelrisalit drei Vollgeschosse in annähernd gleicher Höhe an. In den Seitenflügeln folgten zwei Vollgeschosse und ein in der Höhe reduziertes Attikageschoß. Eine gedeckte Wageneinfahrt war dem Risalit vorgelagert.
Die Straßenfassade präsentierte sich als Palastfassade nach weitgehend italienischem Vorbild. Mit Rundbogenfenstern und achsentrennenden Halbsäulen entsprach die architektonische Gestaltung dem so genannten „Theatermotiv“ (eine Kombination von Pfeiler und Bogen mit vorgelegten Halbsäulen, auf denen das Gebälk ruht, wie z.B. am Colosseum in Rom ).
Die Gesamtauffassung und viele Details folgten dem Vorbild der italienischen Hochrenaissance und damit der stilistischen Vorliebe der Prinzessin. Das erste Obergeschoss war durch eine besonders reiche und starke plastische Ausprägung als Beletage gekennzeichnet.

Zur Gartenseite wurden die an der Hauptfassade entwickelten Gliederungsformen in überwiegend reduzierter Ausbildung übernommen. Der Geschlossenheit der Palastfassade trat aber eine für den Villenbau typische Ausprägung gegenüber, charakterisiert durch lebhafte Vor- und Rücksprünge in verschiedenen Ebenen mit Rotunde und großen Terrassen. Das auf dieser Seite abfallende Bodenniveau eröffnete eine herrliche, fast grenzenlose Aussicht in die Rheinebene.
Die Vermischung der Bautypen Palast und Villa war eine Idee des Architekten, der nach außen hin einen repräsentativen Stadtpalast und gleichzeitig ein geradezu ländliches Refugium inmitten der Stadt schaffen wollte.

Auch von seiner inneren Aufteilung zeigte sich das Palais in der Doppelfunktion Regierungssitz und Wohnsitz. Einerseits gab es eine Reihe von Staatsgemächern in Gestalt von großem Speisesaal, monumentalem Ballsaal, repräsentativem Empfangssalon, Staatstreppe und Galerie. Andererseits waren die privaten Wohnräume in ausreichender Anzahl vorhanden, von denen die Referentin anhand alter Fotoaufnahmen das Wohnzimmer der Prinzessin und das eheliche Schlafgemach vorstellte. Die Wohnräume repräsentierten den Geschmack der Prinzessin und ein Stück ihrer englischen Heimat.

Der letzte hessische Großherzog Ernst Ludwig ließ nach seinem Regierungsantritt im Jahre 1892 das Gebäude nach und nach modernisieren und neu ausstatten. Große Aufmerksamkeit erregte er 1897 mit der Auftragsvergabe für die Ausstattung eines Empfangszimmers an die zwei bedeutenden englischen Künstler Mackay Hugh Baillie Scott und Charles Robert Ashbee. Während der Jugendstil noch in den Kinderschuhen steckte, hatten sich die unterschiedlichen Reformbestrebungen der Arts&Crafts-Bewegung und des Aesthetic Movement seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts neben den traditionellen Stilrichtungen der Innenausstattung entwickelt.
In deutschsprachigen Kunstzeitschriften wurde ausführlich und durchweg lobend über die Arbeiten in Darmstadt berichtet. Deutsche Künstler und vorrangig das hessische Kunstgewerbe zu fördern, machte sich der an der aufblühenden neuen Kunstrichtung des Jugendstils lebhaft interessierte Großherzog nun zur wichtigen Aufgabe. Wahrscheinlich noch gegen Ende des Jahres 1897 beauftragte er den an der Kunstgewerbeschule in Berlin lehrenden Künstler Otto Eckmann mit der Ausstattung seines Arbeitszimmers. Dabei sorgte er dafür, dass zumindest einige Holzarbeiten von der Darmstädter Firma Glückert angefertigt wurden. Die beiden Gemächer waren der Auftakt zur modernen Ausstattung einer Reihe von Räumen im Neuen Palais.
Es war der Beginn des Darmstädter Jugendstils, denn die Maßnahmen vollzogen sich noch vor der Gründung der 1899 von Ernst Ludwig ins Leben gerufenen Künstlerkolonie Mathildenhöhe. Das Ergebnis kulminierte 1901 in der Ausstellung „ Ein Dokument Deutscher Kunst“. Sie sollte der Welt eine neue Wohnkultur und die vollkommene Durchdringung von Kunst und Leben offenbaren, wie sie auch in unserer Region später sichtbaren Ausdruck in den Bad Nauheimer Badeanlagen fand.

In der Nacht vom 11. zum 12. September 1944, die als Brandnacht nicht nur in die Darmstädter Geschichte einging, wurde das Neue Palais schwer beschädigt. Die Fotografien zeugen von einem teilweise hohen Zerstörungsgrad im Innern und im Bereich des Südflügels, zeigen aber auch eine großteils erhaltene Bausubstanz. Die Forschungsarbeiten von Tücks bekräftigten, dass die Ruine nicht, wie lange Zeit angenommen, schon kurz nach Kriegsende abgebrochen wurde. Sie hat mehrer Pläne entdeckt, die zunächst den Wiederaufbau als Konzertsaal, Musikschule und städtische Bibliothek vorsahen, jedoch wahrscheinlich aus Kostengründen nicht ausgeführt wurden.
Wann der Abbruch letztendlich erfolgte, konnte nicht eindeutig eruiert werden. Zumindest 1954, bei Vollendung der Kuppel der benachbarten Ludwigskirche, existierte sie noch. Heute erhebt sich im ehemaligen Palaisgarten das 1972 eingeweihte Landestheater , anstelle des Palaisbaus breitet sich nun die Parkanlage aus. Keine Gedenktafel erinnert an das Schloss als Geburtsstätte berühmter historischer Persönlichkeiten, wie der letzten russischen Zarin, und Wiege des Darmstädter Jugendstils.
Mit ihren durch interessantes Bildmaterial und Planskizzen unterlegten gründlichen Recherchen und Analysen hat die Referentin trotz äußerst spärlicher Quellenlage einen anschaulichen Beitrag zur Erinnerung an dieses kulturhistorisch hervorragende Gebäude geleistet.

Im Internet www.wetterauer-zeitung.de

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