Vortrag Dr. Karin Marx: Rheinreise und Rheintourismus vor dem Eisenbahnbau

Wetterauer Zeitung, 27.01.2004

»’Kommt alle her ihr fernen Pilgerschaaren‘ – Rheinreise und Rheintourismus vor dem Eisenbahnbau«

von Klaus-Dieter Rack

Über den von alters her mythenumrankten Rhein referierte Dr. Karin Marx, Archivoberrätin am Hessischen Staatsarchiv Darmstadt, auf Einladung des Friedberger Geschichtsvereins unlängst vor interessiertem Publikum. Dabei stand der stetig wachsende Rheintourismus vor dem Eisenbahnbau zwischen 1780 und 1850 im Zentrum ihres mit zahlreichen, sehr illustrativen Lichtbildern unterlegten Vortrags im Bibliothekszentrum Klosterbau.

In einer 1840 erstellten Reisebeschreibung des Rheingaus werden „ferne Pilgerschaaren“ in pathetisch-romantischen Formulierungen aufgerufen, den „stolzen Rhein“ zu befahren und den „Blick in seine grüne Flut“ zu senken, „wenn sie bestralt die goldne Abendglut“. Zu diesem Zeitpunkt gab es am Rheinstrom, insbesondere im Rheingau, bereits einen Reiseverkehr Vergnügungssuchender, der noch rund 40 Jahre früher völlig undenkbar war.

Der Rhein war seit Menschengedenken eine der wichtigsten Verkehrsadern Deutschlands und Mitteleuropas, wenngleich auch ein keineswegs ungefährlich und effizient zu benutzender Verkehrs- und Handelsweg. Zahlreiche Stromschnellen, Untiefen, Klippen und schroffe Felswände ließen die Schifffahrt auf dem Rhein, insbesondere am Mittelrhein zwischen Mainz und Köln, zu einem ständigen Abenteuer und Risiko werden. Zudem verteuerten und verzögerten unzählige Zollstellen und städtische Stapelrechte den per Schiff transportierten Güterverkehr. Aber auch die Landwege am Rhein waren bis 1850 in einem desolaten Zustand und deren Nutzung per Kutsche eine schmerzhafte Belastung für Knochen und Muskulatur.

Vor 1800 reisten am und auf dem Rhein vornehmlich Geschäftsleute mit strenger Zweckhaftigkeit, nur die wenigsten kamen aus Interesse an der eindrucksvollen Naturlandschaft. Die Entdeckung des Rheintales als einmalig-schöne, wildromantische Kulisse ging in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aber nicht von Deutschen aus, sondern es waren vor allem Engländer, die sich an den natürlichen Reizen der Rheinlandschaft erfreuten. England besaß im Gegensatz zu Deutschland im 18. Jahrhundert nicht nur einen reichen, weltoffenen Adel, sondern bereits auch ein großes, begütertes Wirtschaftsbürgertum. Die englischen Adligen und Bürgerlichen gingen zum Abschluss einer standesgemäßen Erziehung auf eine Bildungsreise auf den Kontinent. Die „Grand Tour“ oder „Tour d’Europe“ führte regelmäßig in das alte Kulturland Italien und auf dem Wege dorthin reiste man bevorzugt und in wachsender Zahl durch das Rheintal. Die Engländer ergötzten sich dabei an dem wild zerklüfteten Flussbett ebenso wie an den unzähligen verfallenen Burgruinen der Uferhänge und den beeindruckenden Bauwerken mittelalterlicher Architektur in den Städten längs des Rheins. Darüber hinaus fanden englische Reisende in den idyllischen Weindörfern am Rhein aber auch den Reiz unverdorbener Natur und den Genuss einfachen Lebens in zumeist schlichten Herbergen.

Die wenigen Deutschen, von denen vor 1800 Zeugnisse über ihre Reisen am Rhein vorliegen, wie der Humanist und Aufklärer Johann Georg Forster und der Naturforscher und Geograph Alexander von Humboldt, betrachteten die Rheinlandschaft hingegen fern von jeglicher Schwärmerei und ungeachtet ihrer ästhetischen Reize. Sie blickten kritisch und nüchtern auf die Kleinräumigkeit der deutschen Territorien am Rhein und auf deren ökonomische, industrielle Rückständigkeit. Der aufgrund der schlechten Bodenbeschaffenheit von den Rheinanwohnern fast ausschließlich betriebene Weinanbau wurde von Forster sogar auf Dauer eher als Einschränkung, Nachteil und wenig wohlstandsfördernd bewertet.

Die Herrschaft Napoleons, die linksrheinische Besetzung durch französische Truppen und militärische Kampfhandlungen wie Verwüstungen führten zwischen 1800 und 1815 zu einer Unterbrechung des gerade aufgekommenen Reiseverkehrs, insbesondere die Engländer wurden durch die so genannte Kontinentalsperre am Besuch des europäischen Festlandes und an einer Bereisung des Rheingebietes gehindert.
Noch während der napoleonischen Ära bereisten in Kriegspausen vereinzelt deutsche Bildungsbürger das Rheintal und gelangten nun im Zeichen der Besatzungsdemütigungen zu einer neuen, überhöhenden Rheinbetrachtung. Im nunmehrigen Grenzstrom erblickte man fortan pathetisch-schwelgerisch „das treue Bild unseres Vaterlands, unserer Geschichte und unsers Charakters“, „nirgends werden die Erinnerungen an das, was die Deutschen einst waren, und was sie sein könnten, so wach, als am Rhein.“
An diesem romantisierenden Bild und dieser verklärenden Sichtweise wirkten nach 1800 auch Friedrich Schlegel, Achim von Arnim und Clemens von Brentano entscheidend mit, die den Rhein, seine Landschaft und seine Geschichte zu einem einmaligem und urdeutschen Kunstwerk stilisierten, im Rheinland den Hort deutscher Freiheit erblickten und den Mythos der Rheinromantik begründeten. Aloys Wilhelm Schreiber erhob 1806 das Rheingebiet in seinen „Malerischen Ansichten des Rheins“ gar zum „Paradies von Deutschland“. Ungeachtet romantisierender Übertreibungen wurden den Menschen ab dem 19. Jahrhundert nun endgültig die Augen für die Schönheiten der Naturlandschaft Rheintal geöffnet.

Nach der Befreiung Deutschlands und Europas vom „napoleonischen Joch“ wurde der Rhein mehr denn je zum zentralen Symbol des deutschen Nationalgedankens und zum in unzähligen Liedern meistbesungenen Strom Deutschlands. Auch der Reiseverkehr bekam nun neuen Auftrieb. Die Übernachtungszahlen erhöhten sich merklich. Kamen noch 1800 gerade 900 Kurgäste nach Wiesbaden, waren es 1814 bereits 6.000, darunter Johann Wolfgang von Goethe, und 1817 gar 10.000 kursuchende Personen aus dem In- und Ausland. Jenseits der Hotels der großen Städte und Kurorte aber blieb das Beherbergungsgewerbe trotz des Reiseaufschwungs bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts noch eher unterentwickelt, erstreckte sich auf meist kleine, einfache Gasthöfe.

Das neue und letztlich entscheidende Kapitel des Fremdenverkehrs am Rhein begann etwa zehn Jahre nach Goethes Besuch am Rhein: Mit der 1823 erfolgten Errichtung einer Dampfschifffahrtslinie durch eine niederländische Gesellschaft ging die Zeit der Segelboot-Romantik und des Treidelverkehrs auf dem Rhein zu Ende und es wurde der Weg in den Massentourismus geebnet. Bereits 1825 existierte ein regelmäßiger Linienverkehr mit Dampfschiffen zwischen Rotterdam und Köln und 1827 nahm die in Köln gegründete „Preußisch-Rheinische Dampfschifffahrtsgesellschaft“ einen planmäßigen Verkehr auf dem Mittelrhein auf und beförderte schon im ersten Jahr 18.000 Passagiere. Dauerte die Reise auf der Strecke Köln-Mainz bislang drei Tage, so benötigte das Dampfschiff jetzt stromabwärts nur noch neun Stunden eine für die Zeit enorme Beschleunigung der Reisegeschwindigkeit.
Die wachsende Nachfrage auf die für den Betreiber lukrativen Verkehrsmittel – 1837 wurden bereits 150.000 Personen auf dem Rhein befördert – führte 1838 zur Gründung einer weiteren Dampfschifffahrtsgesellschaft, die ihren Sitz in Düsseldorf hatte. Vom nun entstehenden harten Konkurrenzkampf profitierte der Reisende durch stark sinkende Fahrpreise und nach der 1853 erfolgten Fusion zur „Köln-Düsseldorfer“ überstieg die Zahl der Schiffspassagiere auf dem Rhein rasch die Millionengrenze.

Nach zögerlichen Anfängen entdeckte auch der Buchmarkt den Rhein als attraktiven und gewinnbringenden Gegenstand von Reisebeschreibungen. Zwischen 1830 und 1850 erschienen pro Jahr rund 10 Titel mit immer größeren Auflagen nebst anschaulichen Karten, beeindruckend klaren Stichen, kolorierten Zeichnungen und Panoramen, von den Frau Dr. Marx eine sehr anschauliche Anzahl an der Leinwand präsentierte.
Der scharfsinnige Ludwig Börne spöttelte bereits 1828, dass die Reisenden, vor allem die Engländer, durch das akribische Betrachten der Reisebeschreibungen oft „die Landschaft selbst übersehen“.
Als ab 1850 die ersten Eisenbahnlinien längs des Rheins gebaut wurden, war der Massentourismus nicht mehr aufzuhalten. Seit 1926 ist das Rheinufer von der Quelle bis zur Mündung durch ein parallel führendes Schienennetz befahrbar und der gewaltige Strom zum populären und erreichbaren Reiseziel für alle Bevölkerungsschichten geworden.

Die Zuhörerschaft bedachte den sehr lehrreichen und mit eindrucksvollen Lichtbildern illustrierten Vortrag mit dankbarem Applaus.

Im Internet www.wetterauer-zeitung.de

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